Die Obere Verspannung
von Bettina Bickel
Das Wichtigste in Kürze
Die „Obere Verspannung“ bestehend aus Nackenrückenband und Nackenplatte hebt unter Spannung den Rücken an
Die „Untere Verspannung“ verbindet Vorhand mit Hinterhand, trägt die Organe und kann das Aufwölben des Rückens unterstützen
Beim Reiten müssen wir uns diese anatomischen Strukturen nutzbar machen, um Schäden für die Wirbelsäule des Pferdes zu vermeiden
Die obere und untere Verspannung (schematisch).
In diesem Artikel
Was ist die „Obere Verspannung“?
Als „Obere Verspannung“ bezeichnet man den großen Bandapparat bestehend aus Nackenrückenband und Nackenplatte, der die Wirbelsäule des Pferdes bedeckt. Das Nackenrückenband entspringt am Hinterhaupt des Pferdes (mittig hinter den Ohren) und verläuft unterhalb des Mähnenkamms bis zum Widerrist als „Nackenband“. Vom Widerrist verläuft es weiter die gesamte Wirbelsäule entlang bis hinter zum Kreuzbein als „Rückenband“. Das Nackenrückenband bildet so eine enge anatomische Verbindung zwischen dem Genick und der Hinterhand des Pferdes. Das erklärt die oft in der Praxis festgestellte Tatsache, dass sich Verspannungen im Genick auch auf Rücken und Hinterhand auswirken und umgekehrt.
Das Nackenrückenband entspringt als relativ dünner Strang hinter dem Genick und verbreitert sich im Verlauf Richtung Widerrist. Dem Widerrist liegt es dann breit in Form einer Kappe auf und verbindet sich direkt mit den Dornfortsätzen der Brustwirbel. Auch im weiteren Verlauf Richtung Kreuzbein liegt das Rückenband den Dornfortsätzen direkt auf und ist mit diesen verbunden. Diese enge Verbindung zur Wirbelsäule spielt die entscheidende Rolle für die eigentliche Funktion des Nackenrückenbands.
Zusätzlich zu Nackenrückenband ist auch die „Nackenplatte“ Teil der Oberen Verspannung. Die Nackenplatte besteht aus mehreren Bändern, die im Bereich der Halswirbelsäule vom Nackenband zu den Dornfortsätzen des zweiten bis sechsten Halswirbel ziehen. Somit ist auch die Halswirbelsäule direkt mit dem Nackenrückenband verbunden.
Das Nackenrückenband und auch die Nackenplatte besteht zum größten Teil aus Elastin verwoben mit steifen Kollagenfasern. Elastin ist hoch elastisch und damit für die Dehnungsfähigkeit des Nackenrückenbands verantwortlich. Kollagen wirkt als strukturgebendes Material. Die Elastizität des Nackenrückenbandes unterscheidet sich in seinen verschiedenen Abschnitten. Im Bereich des Nackenbandes besteht es überwiegend aus Elastin und ist damit sehr elastisch. Zwischen dem vierten und achten Brustwirbel ändert sich die Zusammensetzung und es besteht im weiteren Verlauf überwiegend aus Kollagen. Es ist damit wenig elastisch, dafür aber sehr zugfest.
Welchen Zweck hat die „Obere Verspannung“ in der Natur?
In der Natur verbringt das Pferd den größten Teil seines Tages entweder grasend, mit gesenktem Kopf oder ruhend mit dem Kopf in entspannter Haltung. Für diese beiden Fälle bietet die obere Verspannung eine äußerst effiziente Tragekonstruktion, die es dem Pferd ermöglicht, das erhebliche Gewicht sowohl von Hals und Kopf als auch seines Rumpfes effizient und ohne Schaden für die Wirbelsäule zu tragen.
Im Stand, bei entspannter Kopfhaltung, dient die Nackenplatte als stabile Tragekonstruktion für Hals und Kopf. Tatsächlich reicht in dieser Position allein die Spannung der Nackenplatte aus, um den Kopf ohne viel zusätzlichen Einsatz von Muskelkraft zu tragen.
Im entspannten Zustand hängen das Rückenband und die gesamte Wirbelsäule leicht nach unten durch. Senkt das Pferd den Kopf Richtung Boden, z.B. um zu grasen, so gerät das gesamte Nackenrückenband inklusive der Nackenplatte in Spannung. In diesem Zustand folgt das Rückenband nun einer annähernd waagerechten Linie. Durch seine direkte Verbindung mit den Dornfortsätzen der Wirbel und die abnehmende Elastizität des Bands ab dem Widerrist, wirkt sich die Spannung des Nackenrückenbandes nun auch direkt auf die Wirbelsäule aus. Die Dornfortsätze folgen dem Zug des Nackenrückenbandes in Richtung Pferdekopf, die gesamte Wirbelsäule hebt sich an und insbesondere die Dornfortsätze der vorderen Brustwirbel – die im entspannten Zustand leicht Richtung Schweif geneigt sind - werden auseinandergezogen.
In der Natur dient diese Konstruktion einem einfachen Zweck: Das Pferd hat – auch durch sein ausladendes Verdauungssystem – eine große Last an inneren Organen zu tragen, die indirekt natürlich auch mit der Wirbelsäule verbunden sind. Steht das Pferd, zieht der Rumpf die Wirbelsäule ständig nach unten. Gäbe es den Bandapparat des Nackenrückenbandes nicht, müsste das Pferd diese Last durch aktive Muskelarbeit tragen und die Wirbelsäule aktiv stabilisieren. Die obere Verspannung ist also ein effizienter Mechanismus, der es dem Pferd ermöglicht, die Wirbelsäule mit minimalem Energieaufwand zu stabilisieren und vor Überlastung zu schützen.
Was ist die „Untere Verspannung“?
Dem Bandapparat der oberen Verspannung (und den ihn umgebenden Muskelketten aus Rücken-, Hals- und Kruppenmuskulatur) steht die „untere Verspannung“ gegenüber. Sie besteht aus vier Bauchmuskeln, die in der Mitte des Pferdebauches zur „Linea alba“ verschmelzen, einer sehnigen Struktur, die vom Brustbein zum Schambein führt. Die Hauptaufgabe der Bauchmuskulatur ist die Aufhängung der Eingeweide. Sie bilden praktisch eine Hängematte, in der diese eingebettet sind. Zusätzlich ist die Bauchmuskulatur zuständig für die „Bauchpresse“ beim Kotablassen.
Für das Reiten hat die Bauchmuskulatur jedoch noch eine andere wichtige Funktion: Sie stellt eine Verknüpfung zwischen Brustkorb und Becken des Pferdes her und sorgen so bei Kontraktion für ein Abkippen des Beckens nach hinten-unten. Das passiert insbesondere in den schwungvolleren Gangarten, z.B. im Galopp. Durch die sehr feste Verbindung zwischen Becken und Kreuzbein bedeutet ein Abkippen des Beckens nach hinten-unten gleichzeitig ein Kippen des Kreuzbeins nach hinten-unten. Dadurch wird wiederum das Rückenband gespannt und die Wirbelsäule nach oben gezogen.
Die Bauchmuskulatur ist also in der Bewegung am Aufwölben des Rückens beteiligt. Die Aufwölbende Funktion der Bauchmuskulatur ergibt sich allerdings nur durch Abkippen des Beckens! Eine Anspannung der Muskulatur bei gleichzeitig festgehaltenem Becken hat kein Aufwölben des Rückens zur Folge. Zudem kann die Bauchmuskulatur nur rhythmisch kontrahieren und keine statische Muskelarbeit leisten. Auch daraus zeigt sich, dass die Bauchmuskulatur lediglich die Aufwölbung des Rückens unterstützt, ihn jedoch nicht in dieser Position hält.
Fazit
Dem Pferd wurde mit der oberen Verspannung eine äußerst stabile Tragekonstruktion gegeben, die es ihm ermöglicht, Gewicht möglichst rückenschonend zu tragen. Die Tragfähigkeit der oberen Verspannung entsteht durch Zug an den Dornfortsätzen, insbesondere der Brustwirbelsäule, nach vorne Richtung Kopf. Dies wölbt den Rücken nach oben auf und wirkt einem Absacken der Wirbelsäule entgegen. In der Natur verbringt das Pferd den weitaus größten Teil des Tages mit der Nase am Boden und hält damit das Nackenrückenband unter ausreichender Spannung.
In der täglichen Arbeit mit dem Pferd nähern wir uns dieser Haltung im sogenannten „Vorwärts-Abwärts“ an und nutzen sie, um den Rücken „nach oben“ zu bringen. Dennoch reicht das für ein Pferd nicht aus, um einen Reiter jahrelang unbeschadet tragen zu können. Hierfür sind weitere Mechanismen wie „Anlehnung“ und „Aufrichtung“ nötig. Was es damit auf sich hat und wie das mit der oberen Verspannung zusammenhängt, ist Inhalt des nächsten Artikels in dieser Serie.
Weiterführende Literatur
H. Meyer, "Zum Zusarnmenhang von Halshaltung, Rückentätigkeit und Bewegungsablauf beim Pferd" (1996)
K. S. Gellman und J. E. A. Bertram, "The equine nuchal ligament: structural and material properties" (2002)
Dr. Gerhard Heuschmann, "Anatomische Grundlagen" in "Aus Respekt" von Anja Beran (2005)
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